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6 – Hörgeschädigte Kinder mit mehrfachen Behinderungen

Hörgeschädigte Kinder mit mehrfachen Behinderungen

Gottfried Diller

wendet sich den Fragen zu, die entstehen, wenn zusätzliche Erschwernisse oder Behinderungen bei der Förderung zu berücksichtigen sind, z. B. durch weitere Sinnesbeeinträchtigungen oder im Rahmen von Syndromen.

Einführung

Wenn bei einem Baby oder Kleinkind z. B. eine hochgradige Hörschädigung diagnostiziert wird, gilt es im allgemeinen Sprachgebrauch und im Verständnis der Menschen als behindert – in diesem Fall als hörbehindert. Ein blindes Kind, ein Kind mit Trisomie 21 oder ein Kind mit körperlichen Missbildungen gelten ebenfalls als behindert. Jeder kennt aber auch Fälle, in denen man nicht sicher sein kann, ob eventuell eine Behinderung vorliegt. Ein Kind, das in der Schule deutliche Leistungsrückstände aufweist: ist es einfach nur „faul“ oder vielleicht doch lernbehindert? Ein Kind, das mit drei Jahren noch kein Wort spricht:  wächst sich das aus oder liegt eine Entwicklungsstörung vor? Ein Kind, das ein äußerst aggressives Spielverhalten an den Tag legt: handelt es nur deshalb so, weil es dieses Verhalten in der Familie gelernt hat, oder ist es psychisch behindert?

Die Beispiele zeigen, dass der Begriff „Behinderung“ nicht eindeutig zu verwenden ist. Vielmehr „schillert“ er und bezeichnet wohl manches Mal auch Eigenschaften und Verhaltensweisen fälschlich als „nicht normal“.

In der Sonderpädagogik wird dieser Begriff daher vorsichtig verwendet. Es gibt seit geraumer Zeit und von vielen verschiedenen Wissenschaftlern immer wieder neue Bemühungen, um begrifflich klar zu fassen, was unter einer Behinderung zu verstehen ist und was nicht. Diese Diskussion kommt zum Teil auch deshalb nicht zu einem allseits akzeptierten Ende, weil sie u. a. auf ganz unterschiedlichen Grundannahmen über das Menschenbild, das Gesellschaftmodell oder das Theorieverständnis selber beruht. Eines hat sich im Zuge der Debatten inzwischen aber schon gezeigt: die Auffassung, dass die Ursache der Behinderung allein im behinderten Menschen liegt, ist nicht mehr akzeptabel und konsensfähig. Eine solche „Defizitorientierung“ unterschlägt einfach, dass es in Gestalt der sozialen Umwelt des behinderten Menschen auch eine zweite Seite gibt, die für die Manifestation der Behinderung nötig ist. Deshalb klingen moderne Definitionen des Behinderungsbegriffs heute anders, z. B. so wie von Alfred Sanders formuliert: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist“ (H. Eberwein, S. Knauer: Handbuch der Integrationspädagogik, Beltz 2002). Hier wird die Behinderung also nicht nur auf eine Schädigung oder Leistungsminderung eines einzelnen Menschen zurückgeführt, sondern auch auf die Unfähigkeit des Umfelds des betreffenden Menschen, diesen zu integrieren.

Welchem Behinderungsbegriff man folgt, ist natürlich auch wichtig für eine Beschäftigung mit den so genannten Mehrfachbehinderungen, die ja Thema dieses Moduls sein werden. Man kann sich vielleicht schon denken, dass auch zu diesem Fachterminus unterschiedliche Grundauffassungen existieren, daraus folgend ebenso verschiedene Klassifikationen und schließlich auch voneinander abweichende diagnostische Bestimmungskriterien und sonderpädagogischen Förderkonzepte. Das ist aber nicht unbedingt als negativ zu bewerten, denn die Pluralität der Ansätze und „Schulen“ treibt ja auf der anderen Seite auch den fachlichen Diskurs voran und damit auch die Weiterentwicklung von Theorie und Praxis.

Zum Schluss dieser einleitenden Gedanken sei darauf hingewiesen, dass die Darstellung fokussiert auf Mehrfachbehinderungen beim Vorliegen einer Hörschädigung. Natürlich ist solch ein gleichzeitiges Auftreten verschiedener Behinderungsarten nicht obligatorisch: eine Hörschädigung kann auch isoliert auftreten und umgekehrt kann ein Kind auch mehrfach behindert sein, ohne eine Hörschädigung zu haben. Man denke z. B. nur an ein spastisch gelähmtes Kind mit einer zusätzlichen Sehschädigung oder ein Kind, das durch eine cerebrale Bewegungsstörung körperbehindert und oft auch zusätzlich sprach- oder lernbehindert ist. Die unterschiedlichen Formen und Phänomene, die all diesen Arten von Mehrfachbehinderungen eigen sind, werden von den einzelnen Fachdisziplinen der Sonderpädagogik behandelt. Selbstverständlich ist gerade beim Vorliegen von Mehrfachbehinderungen eine interdisziplinäre Sicht und für die praktische Arbeit eine Kooperation zwingend. Und doch gibt es Schwerpunkte der Betrachtung, wie gezeigt werden wird.

Hier liegt der Schwerpunkt auf dem Fachgebiet der Hörgeschädigtenpädagogik und auf den Problemen der hörgeschädigten Kinder mit mindestens einer zusätzlichen Behinderung.

Kapitel 1: Schädigung, Funktionsstörung und deren Auswirkungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Die wichtigsten Lernziele bestehen darin,

zu wissen, was eine isolierte von einer mehrfachen Schädigung unterscheidet;

zu verstehen, wann man von einer isolierten bzw. einer mehrfachen Funktionsstörungen spricht;

und unter welchem Aspekt man von einer Behinderung/Mehrfachbehinderung spricht.

Die Zahl der hörgeschädigten Kinder mit Mehrfachbehinderung steigt, was u. a. auf die verbesserten medizinischen Maßnahmen zurückzuführen ist, die die Überlebenschance vieler Kinder erhöhen. Man muss davon ausgehen, dass 20 – 30 % aller hörgeschädigten Kinder eine weitere Schädigung haben. Diese Kinder sind mehrfachbehindert.

Untersuchungen zeigen, dass etwa 20 % aller Kinder im vorschulischen Alter zusätzliche Behinderungen oder Erschwernisse haben (Diller et al. 1997: 21,4 %, Hartmann 1974: 22,4 %, Meadow-Orlans et al 1995: 20 %). Damit ist die Gefahr, dass neben der Hörschädigung auch Entwicklungs- und Lernprobleme bei hörgeschädigten Kindern vorhanden sind, deutlich höher als bei hörenden Kindern. Wir können davon ausgehen, dass etwas ein Viertel aller hörgeschädigten Kinder betroffen ist (Hintermair 2003, Rowell 1987, Funderberg 1982). Bei Kindern im Schulalter liegen die Zahlen bei 30 % und mehr (Meadow-Orlans et al. 1995: 30 %, Meadow-Orlans et al. 1997: 32 %, Schwope 1995: 29,9 %). „Als Grund für diese Differenzen wird angeführt, dass viele Kinder in frühem Alter noch nicht als zusätzlich ‚beeinträchtigt’ erkannt werden bzw. häufig klare Diagnosen nicht gestellt werden können (oder gestellt werden wollen)“ (Hintermair 2003, 271).

Heute können Hörstörungen schon in den ersten Tagen nach der Geburt diagnostiziert werden (==> Neugeborenen Hörscreening, Modul 1). Die Förderung der Kinder beginnt dann bereits in den ersten Lebenswochen. Dadurch hat man die Möglichkeit, neben der Hör- und Sprachentwicklung darauf zu achten, inwieweit sich auch alle anderen Fähigkeiten des Kindes altersgemäß entwickeln. Damit haben wir die Chance, „potenzielle Gefahren“ von zusätzlichen Behinderungen oder Erschwernissen rechtzeitig zu erkennen und evtl. zu verhindern oder in ihren Auswirkungen zu vermindern.

Wenn von Mehrfachbehinderung gesprochen wird, herrscht z. T. große Verwirrung, was darunter zu verstehen ist und wie die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Behinderungen und die Auswirkungen auf das Leben des Betroffenen sind. Deshalb soll zunächst eine kurze begriffliche und damit auch inhaltliche Beschreibung erfolgen, denn Behinderung ist ein Oberbegriff, der unter dem Aspekt der Schädigung, der Funktionsstörung und der Auswirkungen der Schädigung/Funktionsstörung klassifiziert werden kann:

Schädigung (am Beispiel Hörschädigung)

Isolierte Schädigung: Eine Hörschädigung trifft auf, wenn im Bereich des äußeren Ohres, des Mittelohres, des Innenohres und/oder des zentralen Hörsystems aus medizinischer Sicht ein körperlicher Schaden vorliegt.

Hörschäden können dominant oder rezessiv bedingt sein. D. h. bei einer dominanten Vererbung reicht es, wenn ein Elternteil dieses Gen trägt. Bei rezessiven Vererbungen müssen beide Elternteile ein entsprechendes Gen haben.

Erworbene Hörschäden entstehen u. U. durch Frühgeburt, Meningitis, Röteln, schweren Infektionen, Sauerstoffmangel, toxische Schäden oder medikamentöse Überdosierungen. Oftmals ist eine Ursache für das Entstehen mehrerer Behinderungen verantwortlich, z. B. kann sich Sauerstoffmangel auf die kognitive und die motorische Entwicklung sowie auf die Hörfähigkeit gleichzeitig auswirken.

Hörschäden können während und nach der Geburt entstehen oder sich im Laufe des Lebens entwickeln, z. B. durch zunehmende Verschlechterung der Hörfähigkeit. Eine Degeneration des Hörens kann genetisch, durch Krankheit oder Alterungsprozesse verursacht sein.

Die Medizin hat heute Möglichkeiten, die Hörstörung durch medikamentöse, technische und operative Maßnahmen bis zu bestimmten Grenzen zu therapieren z. B. auch durch technische Hilfen wie Hörgeräte und Cochlea Implantate.

Mehrfache Schädigungen: Liegen gleichzeitig mehrere Schädigungen körperlicher und neurophysiologischer Art vor, wird von Mehrfachschädigung gesprochen, z. B. dann, wenn neben einer Hörschädigung, eine andere körperliche und/oder eine Schädigung im Bereich des Gehirns (Zentralnervensystems) besteht.

Es gibt eine Reihe von Syndromen bzw. genetischen Störungen, die neben einer Hörschädigung mit weiteren Schädigungen verbunden sind, z. B. im Bereich des Sehens, der körperlichen und geistigen Entwicklung. Mehrfachschädigungen können von Geburt an vorhanden sein oder durch schicksalhafte Kumulierung („Sekundärschädigung“) entstehen, z. B. wenn ein Gehörloser durch Krankheit zusätzlich körperbehindert oder sehgeschädigt wird.

Funktionsstörung

Isolierte Funktionsstörung: Aus einer Schädigung können sich Funktionsstörungen entwickeln, d. h. das entsprechende Körperteil, in unserem Fall das Hörorgan, ist nicht oder nur eingeschränkt in der Lage, seine Hörfunktion wahrzunehmen. Diese sind u.a.:

die Schallwahrnehmung von Tönen, Geräuschen und der Sprache, deren Tonhöhe, Lautstärke und Qualität

das Richtungshören, um erkennen zu können, aus welcher Richtung ein Ton oder Geräusch kommt

die Wahrnehmung prosodischer Elemente (z. B. Melodie, Rhythmus, Betonung Klang) der gesprochenen Sprache

die Schallunterscheidung von Tönen oder Geräuschen und Sprache

zu hören, ob ein Ton gleich oder unterschiedlich klingt

das Erkennen von Schallereignissen, z. B. wissen, was ein gehörtes Geräusch bedeutet, also etwa: das Kind hört etwas und erkennt dabei die Stimme der Mutter, das Klingeln des Telefons usw., ohne dabei einen Vergleich zu haben

das Verstehen von Sprache, z. B. zu wissen, was der andere gesagt hat. Das Kind versteht die Bedeutung des Gehörten.

Funktionsstörungen als Auswirkung von Mehrfachschädigungen: Von Mehrfachschädigungen wird gesprochen, wenn neben einer Schädigung, z. B. der Hörschädigung, die bestimmte Auswirkungen haben kann, gleichzeitig eine zweite bzw. mehrere Schädigungen vorliegen, die ihrerseits die Entwicklung des Kindes beeinflussen können.

Funktionsstörungen können als Folge einer Schädigung („multipler primärer Defekt“) auftreten, z. B. kann eine zerebrale Störung der Motorik eine Körperfunktion betreffen, zusätzlich aber oft auch eine Funktionsstörung der Sprachentwicklung, des Sprachgebrauchs oder des Lernens bewirken. Hierbei handelt es um obligate Folgen, also um Störungen, die nicht zu verhindern sind, die aufgrund von einer mehrfachen Primärschädigung entstehen können. Es ist aber auch möglich, dass mehrere einzelne Schädigungen gleichzeitig auftreten, die in Abhängigkeit zur Einzelstörung, aber auch als Ergebnis des ganzheitlichen Zusammenwirkens entsprechend komplexe Funktionsstörungen verursachen können.

Liegen neben der Hörstörung noch weitere Schädigungen vor, ergeben sich u. U. Funktionsstörungen, die auf vielerlei Schädigungen zurückzuführen sind. Diese Faktoren wirken nicht nebeneinander, additiv, sondern sie haben ihrer Gesamtheit gegenseitigen Einfluss auf die Entwicklung der einzelnen Funktionen.

Mehrfache Funktionsstörung als Mehrfachbehinderung: In der Pädagogik beschäftigt man sich mit den Auswirkungen einer Schädigung, den Funktionsstörungen. Der Begriff Mehrfachbehinderung wird in verschiedenem Kontext unterschiedlich verwendet. So versteht man darunter zum Beispiel in der pädagogischen Diskussion ein verwobenes Beziehungsgeflecht, eine Struktur und nicht die Summe verschiedener Behinderungen. Die pragmatische Bestimmung des Begriffs richtet sich nach dem Bedarf an rehabilitativer Hilfe, die über das Maß hinausgeht, das für eine bestimmte Behinderungsart erforderlich ist.

Man kann dann von Mehrfachbehinderung sprechen, wenn z. B. neben der Hörschädigung eine geistige Behinderung, andere Sinnesschäden, Körperbehinderungen, insbesondere zerebrale Lähmungen und Bewegungsstörungen, zerebrale Sprachstörungen, neurogene Lernstörungen, Wahrnehmungsstörungen und/oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) vorliegen.

Spricht man anstatt von zusätzlichen von mehrfachen Behinderungen bzw. Mehrfachhinderung, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur jede einzelne Behinderung ihre Auswirkungen hat, sondern alle beim Kind vorhandenen Behinderungen insgesamt in der Verbindung die Entwicklung des Kindes beeinflussen. So haben z. B. Hörschädigung und Blindheit ihre eigenen spezifischen Auswirkungen. Nicht-Sehen-Können bedeutet z. B. Einschränkungen in der Mobilität, der Spracherwerb ist dagegen gut möglich. Nicht-Hören-Können bedeutet meist Schwierigkeiten beim Spracherwerb. Kommt beides zusammen, sind sowohl Mobilität und Spracherwerb betroffen. Es können keine gegenseitigen Kompensationen stattfinden. In der Kombination von beiden Behinderungsarten können aber zusätzliche Probleme auftreten.

In Abhängigkeit vom Schweregrad der einzelnen Schädigungen und der Anzahl der Schädigungen können sich leichtere oder komplexere Behinderungen entwickeln, die eine Entwicklung des Kindes in erheblichem Maße beeinflussen können.

Sind aufgrund von mehrfachen Schädigungen nahezu alle Entwicklungs- und Lebensbereiche betroffen, spricht man von mulitfunktionellen Störungen. Pädagogisch gesehen sind dies mehrfach behinderte oder auch schwerst mehrfach behinderte Kinder.

Funktionsstörungen müssen nicht zwingend eintreten: Gelingt es durch medizinische, technische, therapeutische oder pädagogische und psychologische Maßnahmen die Auswirkung einer Schädigung zu beeinflussen, so zeigen sich weniger Funktionsstörungen.

Für eine Hörschädigung ist dies wie folgt zu verstehen: Wir sind heute dazu in der Lage, dem hörgeschädigten Kind durch apparative Hilfen eine Entwicklung seiner Hörfähigkeit zu ermöglichen. Tun wir dies nicht, wird es das Kind erheblich schwerer haben, z. B. die Lautsprache zu erwerben. Als Folgebehinderung würde dann eine Sprachstörung eintreten. Dies lässt sich aber weitgehend verhindern

Schädigung und zusätzliche Erschwernisse: Von zusätzlichen Erschwernissen ist zu sprechen, wenn sie nicht ursächlich auf eine organische Störung zurückzuführen sind, z. B. bei Verhaltens-, Lern-, Konzentrations-, Erziehungs- sowie Gedächtnis- und Wahrnehmungsschwierigkeiten. Hier sind es oftmals äußere Einflüsse, die bestimmte Entwicklungen erschweren oder z. T. verhindern können. Die Situation ein hörbehindertes Kind zu haben, ist für viele Familien keine leichte Aufgabe. Es kann zu Störungen der Eltern-Kind-Kommunikation kommen, die sich u. U. auf die psychosoziale Entwicklung des Kindes auswirkt. Auch hier kann eine rechtzeitige Intervention unterstützen.

„Es ist davon auszugehen, dass die Lern- und Entwicklungsprobleme bei hörgeschädigten Kindern deutlich gegenüber hörenden Kindern erhöht sind“ (Hintermair 2004, 12ff). Dieser Art von Behinderung muss keine organische Fehlfunktion zugrunde liegen. Sie können sich entwickeln, müssen es aber nicht. Pädagogisch wichtig ist, dass nicht alle Anzeichen von Entwicklungsverzögerungen sich manifestieren müssen. Es ist auch möglich, negative Auswirkungen zu verhindern.

Auswirkungen der Schädigung und Funktionsstörung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft

Eine Vielzahl von Schädigungen und den damit verbundenen mehrfachen Funktionsstörungen können die Entwicklung eines hörgeschädigten Kindes und damit die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussen. Erst wenn es um die Teilhabe bzw. die Auswirkungen einer Störung geht, entsteht Behinderung im eigentlichen Sinne.

„Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbare Lebensverrichtung oder ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ (Bleidick 1992).

Störungen der Hörfunktion können unterschiedliche Auswirkungen haben, z. B. in den klassischen direkt „ hörbezogenen“ aber auch in den nicht direkt „hörbezogenen“ Bereichen. Zu den „hörbezogenen Bereichen“ gehören u. a.:

Zuhören (nachmachen, nachahmen, imitieren von dem, was hörbar ist

Verstehen von Gehörtem

Der Entwicklung von Sprache und Sprechen

In der Einzelkommunikation und im Gruppengespräch mit bekannten und unbekannten Personen

Hören im Störlärm (laute Umgebung, wenn Viele durcheinander Sprechen usw.)

Beim Gebrauch von audio-visuellen Medien

Zu den nicht direkt „hörbezogenen Bereichen“ gehören u. a.:

Motorische Fähigkeiten

Psycho-soziale Aspekte

Emotionalität

Kognitive Fähigkeiten

Alle diese Kompetenzen spielen eine Rolle, wenn es darum geht, welche Möglichkeiten Kinder in der Familie, in ihrer Lebensumwelt, im Kindergarten, in der Schule, im Beruf und in der Gesellschaft künftig haben werden.

Lern-Check zu Kapitel 1

1) Von einer isolierten Hörschädigung spricht man, wenn …

a)      nur eine einseitige Hörschädigung vorliegt;

b)      im Bereich des äußeren Ohres, des Mittelohres, des Innenohres und/oder des zentralen Hörsystems aus medizinischer Sicht ein körperlicher Schaden vorliegt;

c)      die Hörschädigung von anderen Schäden isoliert werden kann;

d)     auch andere Schädigungen vorliegen, aber nicht mit der Hörschädigung in Zusammenhang stehen.

2) Eine mehrfache Schädigung liegt vor, wenn …

a)      eine Person wegen der Hörschädigung auch gesellschaftlich ausgegrenzt wird;

b)      eine binaurale Hörschädigung diagnostiziert ist;

c)      neben der Hörschädigung noch andere Schädigungen zeitgleich existieren;

d)     auch die Eltern und/oder Geschwister Hörschädigungen aufweisen.

3) Als isolierte Funktionsstörung eines geschädigten Hörorgans könnte z. B. gelten:

a)      eine Perforation des Trommelfells;

b)      ein gestörtes Richtungshören;

c)      eine hoch belastete Familiensituation;

d)     ein Schulversagen in wichtigen Leistungsfächern

4) Was bedeutet der Begriff ‚multifunktionelle Störung‘?

a)      Für eine Hörschädigung gibt es viele Gründe;

b)      Aufgrund von mehrfachen Schädigungen sind nahezu alle Entwicklungs- und Lebensbereiche betroffen;

c)      Es sind mehrere Funktionen des Hörorgans beeinträchtigt;

d)     Solchen Kindern ist therapeutisch nicht mehr zu helfen.

5) Wann spricht man von Behinderung?

a)      Wenn mehrere Störungen zusammen auftreten;

b)      Nur dann, wenn es um eine Körper- oder Sinnesbehinderung geht;

c)      Wenn die Auswirkungen einer Schädigung die Teilhabe am sozialen Leben erschwert;

d)     Behinderung ist ein rein medizinischer Begriff.

6) Welche Auswirkungen können Hörschädigungen haben?

a)      Es gibt sowohl direkt hörbezogene, aber auch andere, nur indirekt hörbezogene Wirkungen;

b)      Hörschädigungen selbst haben keine Auswirkungen, es sind nur gesellschaftliche Umstände, die zu negativen Folgen führen;

c)      Auswirkungen von Hörschädigungen können durch Technik vollständig beseitigt werden;

d)     Hörgeschädigte sind komplett gesellschaftlich isoliert.

Kapitel 2: Die Aufgabe der Hörrehabilitation

Die wichtigsten Lernziele bestehen darin,

zu wissen, welche Voraussetzungen für eine erfolgreichen Rehabilitation gegeben sein müssen;

formulieren zu können, worauf es bei einer Hörrehabilitation mit mehrfach behinderten Kindern besonders ankommt;

zu verstehen, warum die fachkundige Erstellung von Entwicklungsprofilen wichtig ist.

Die Aufgabe der Hörrehabilitation ist es, die Auswirkungen der Störung des Hörens auf die Funktion des Hörens durch Förder- und Therapiemodelle positiv zu beeinflussen. Damit kann den negativen Auswirkungen der Hörstörung und damit dem Umfang der Behinderung erheblich entgegengewirkt werden. Dies setzt voraus:

Hörschädigungen werden so früh wie möglich diagnostiziert,

die Versorgung mit technischen Hörhilfen erfolgt direkt nach der Diagnose,

Mehrfachschädigungen (-behinderungen) werden erkannt,

Entwicklungsverzögerungen werden wahrgenommen.

Die Konsequenzen, die mit einer Schädigung verbunden sein können, sind vom Zeitpunkt der Diagnose, vom Umfang der Schädigung und den Möglichkeiten der medizinisch-hörtechnischen Versorgung und dem Zeitpunkt des Beginns und der Art der Förderung abhängig.

Jede Behinderung hat ihre eigenen Schwerpunkte in der Förderung. Hat das Kind neben der Hörschädigung weitere Behinderungen, sind diese selbstverständlich in der Förderung zu berücksichtigen, z. B. durch die Kooperation mit anderen Fachdisziplinen.

Für eine Hörschädigung liegt der Schwerpunkt beim Hören im Kontext der Gesamtentwicklung des hörgeschädigten Kindes. Hören als eine grundlegende Wahrnehmungskompetenz beeinflusst nicht nur die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit des Kindes, sondern auch die motorische, sozial-emotionale und kognitive Entwicklung.

Hören nimmt Einfluss auf das Lernen, die Konzentration, das Gedächtnis und das Verhalten des Kindes. Die Förderung des Hörens unterstützt eine altersgemäße Entwicklung des Kindes.

Da die Auswirkungen von Schädigungen nicht von Anfang an festgelegt sind, ist es wichtig, aufmerksam die Fortschritte in den einzelnen Entwicklungsbereichen zu beobachten und, falls dies möglich, ist objektiv zu erfassen.

Die Förderung eines hörgeschädigten Kindes sofort nach der Diagnostik, also künftig schon mit wenigen Lebensmonaten, hat auch darauf zu achten, ob noch weitere Behinderungen zu diesem Zeitpunkt bekannt sind oder erkennbar werden.

Doch was genau ist zu tun? Hier sind nicht nur die Eltern eines behinderten Kindes zunächst meist sehr verunsichert. Der Familie, dem Umfeld, den Tagesmüttern, den Erzieherinnen in einem Regelkindergarten geht es vielleicht ähnlich.

Was ist zu tun? Natürlich sind hier zunächst die Fachkompetenzen gefragt. Informationen und Anregungen über Fördermöglichkeiten von bestimmten Behinderungen sind das eine: Worauf sollte ich achten, wie kann ich dem Kind helfen, seine ganzen Fähigkeiten zu entwickeln? Wie viel Unterstützung benötigen Eltern, Tagesmütter, Erzieher und das Kind mit Behinderungen selbst? Auf welcher Entwicklungsstufe steht das Kind? Besonders die Antwort auf die letzte Frage ist von hoher Bedeutung. Antworten auf diese Fragen machen mich in meinen Umgang mit dem Kind sicherer und zuversichtlicher oder sie geben Anlass aufmerksam zu werden auf Entwicklungen, die ich vielleicht nicht erkannt oder wahrgenommen habe. Um an diese Informationen zu gelangen, sind eigene Beobachtungen sinnvoll.

Sie sollten aber durch objektivere Sichtweisen, z. B. durch die Verwendung von Entwicklungsprofilen ergänzt werden. Diese können dann besonders hilfreich sein, wenn das Kind mehrere Behinderungen hat. Solche Profile sollten auf dem Wissen über die Meilensteine der kindlichen Entwicklung basieren, wie sie auch in dieser Reihe vorgestellt werden (==> Modul 8).

Lern-Check zu Kapitel 2

1) Wofür sind frühe Diagnose und Versorgung von Hörschädigungen wichtig?

a)      Damit die Hörschädigung sich nicht verschlimmert;

b)      Damit die vorhandenen Rehabilitationseinrichtungen und Hörgerätehersteller ausgelastet sind;

c)      Damit die Therapeuten die Eltern früh als Ko-Therapeuten anleiten können;

d)     Damit man in Förderung und Therapie effektiv negative Auswirkungen kompensieren kann .

2) Mehrfach behinderte Kinder werden genauso behandelt wie einfach hörgeschädigte.

a)      Diese Aussage ist vollkommen richtig;

b)      Stimmt, aber es müssen noch weitere Fachkräfte aus Technik und Wissenschaft hinzugezogen werden;

c)      Hat das Kind neben der Hörschädigung weitere Behinderungen, sind diese z. B. durch die Kooperation mit anderen Fachdisziplinen zu berücksichtigen;

d)     Mehrfach behinderte Kinder brauchen eine komplett andere Förderung als einfach hörgeschädigte.

3) Welche Vorteile bieten Entwicklungsprofile?

a)      Sie sammeln die subjektiven Eindrücke von der kindlichen Entwicklung ;

b)      Sie erleichtern das Erkennen von Hörschädigungen;

c)      Sie beziehen sich auf Meilensteine der kindlichen Entwicklung und bieten dadurch objektivere Maßstäbe;

d)     Sie bieten keine Vorteile, sondern vergleichen die individuelle Entwicklung nur mit einer fiktiven Norm.

Referenzen

Bleidick U (1992): Einführung in die Behindertenpädagogik I. Allgemeine Theorie der Behindertenpädagogik. Kohlhammer Stuttgart. 4. Auflage.

Eberwein H & Knauer S (2002) Handbuch der Integrationspädagogik. Weinheim.

Hartmann N (1974): Mehrfachbehinderte hörgeschädigte Kinder in Baden Württemberg. Hörgeschädigtenpädagogik 28, 99-105.

Hintermair M (2003): Familie – Hörschädigung – Zusatzbehinderung – eine zusätzliche Herausforderung für Beratungs- und Förderkonzepte? In: Klauß T, Lamers W (Hrsg): Alle Kinder alles lehren – Grundlagen der Pädagogik für Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung, 27-283. Schindele Heidelberg.

Hintermair M (2004): Die Situation von Familien mit mehrfachbehinderten hörgeschädigten Kindern aus der Sicht von Fachleuten. Zeitschrift für Heilpädagogik.

Meadow-Orlans et al. (1995): Infants who are deaf or hard of hearing, with and without physical/cognitive disabilities. American Annals of the Deaf 140, 279-286.

Meadow-Orlans et al. (1997): Support services for parents and their children who are deaf or hard of hearing. American Annals of the deaf 142, 278-288.

Rowell E G (1987): Learning disability assessment. In: Elliot H., Glass L., Evan JW. (eds.): Mental health assessment of deaf clients: A practical manual, 107-119. College Hill Boston.

Schwope H (1995): Zur gegenwärtigen Situation der pädagogischen Förderung mehrfachbehinderter hörgeschädigter Kinder in Niedersachsen. Hörgeschädigtenpädagogik 49, 319-

 


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